Pfarrer Wilhelm Karle war von 1931 bis 1939 Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Tennenbronnund musste mit seiner Familie 1939 nach England ins Exil.
Während vielen Tennenbronner Bürgern Pfarrer Karle nur als der ev. Pfarrer, der in der NS-Zeit emigrieren musste, bekannt ist, zeichnete Stadtarchivar Carsten Kohlmann im Vortrag der Heimathausgruppe ein beeindruckendes und viel umfassenderes Bild, von einer außergewöhnlichen Persönlichkeit welche als Gemeindepfarrer, in der ev. Landeskirche und in der Ökumene gemeinsam mit seiner Frau Annemarie europaweite Bedeutung hatte. „Bei keinem anderen Thema, das die Projektgruppe Tennenbronner Heimathaus bisher angeboten hat, lassen sich Lokalgeschichte, Deutsche Geschichte und Zeitgeschichte so eindrücklich darstellen wie in diesem Kolloquium heute Abend“, so lobte Stadtarchivar Carsten Kohlmann beim Einstieg in seinen Vortrag. Unglaubliches Hintergrundwissen, akribische Recherchen in Landes- und Staatsarchiven, und der Glücksfall, dass der persönliche Kontakt zum Sohn von Pfr. Karle zustande kam, machten den Vortrag von Kohlmann für die vielen Gäste zu einem tief ergreifenden und dauerhaften Erlebnis. Entsprechend hoch konzentriert verfolgten die Zuhörer bis zu vorgerückter Stunde den Ausführungen des Stadtarchivars.
Sichtlich ergriffen zitierte Kohlmann einen Textauszug aus einem Brief, den Pfr. Karle noch im hohen Alter von 85 Jahren an den evangelischen Landesbischof geschrieben hat. „Ich werde diesen Augenblick bei der Ausreise am 6. April 1939 auf dem Flughafen Tempelhof nie vergessen, als bei der Emigration nach England meine jüdische Frau mit den Kindern und ich plötzlich getrennt wurden. Werde ich meine Familie jemals wieder sehen?“ So seine angsterfüllte, bange Frage.
Pfr. Karle, 1903 in Karlsruhe geboren, legte als Jahrgangsbester sein theologisches Examen ab und hatte die Lehrbefähigung in der Hebräischen Sprache. Seine Frau Dr. Annermarie Karle hatte ebenfalls Theologie studiert und promovierte zum Dr. theol. an der Universität in Heidelberg. Nach ihrer Heirat kam Pfr. Karle mit seiner Frau über Schiltach und Mannheim 1931 als Pfarrer in die ev. Kirchengemeinde nach Tennenbronn.
Mit der Machtergreifung der NSDAP und den damit verbundenen Anfeindungen gegen die jüdische Bevölkerung, veränderte sich für die Familie Karle schlagartig die Situation – auch in Tennenbronn. Obwohl evangelisch getauft.- aber von jüdischer Abstammung-, kommt Frau Karle ins Visier der Nazis. Nachdem die Frau des Tennenbronner Dorfarztes eine NS Frauengruppe einrichten wollte, sollte der evangelische Frauenverein zugunsten der NS-Frauengemeinschaft aufgelöst werden, was Frau Karle ablehnte. So begannen ab März 1934 Schikanen gegen den evangelischen Frauenverein von Tennenbronn, die sich gegen deren Leiterin, Annemarie Karle, richteten. Nachdem Frau Karle auch den Vorsitz nicht abgeben wollte eskalierten die Vorgänge. Es gab Protestschreiben von der Kreisfrauenschaft und auch die Leiterin des badischen Frauenwerks wurde eingeschaltet. Selbst der Oberkirchenrat, bei dem um Unterstützung nachgefragt wurde, reagierte ausweichend und bezog sich später auf die „Nürnberger Gesetze“, nach der die „rechtlichen Grundlagen für die Reinhaltung des deutschen Blutes“ geschaffen seien. Gleichzeitig bedeutete diese Gesetzgebung, dass die Kinder der Familie Karle eine jüdische Schule besuchen müssten. Im Sommer 1937 erschien im Nazi-Hetzblatt „Der Stürmer“ ein Beitrag in dem es hieß: „Der evangelische Pfarrer von Tennenbronn hat eine Rassejüdin zur Frau. Er bekämpft die Aufklärung des Volkes in der Judenfrage.“ Die Gestapo drohte mit weiteren Maßnahmen. Dazu kamen weitere Repressalien für Pfr. Karle, wie der Ausschluss aus der Arbeitsgemeinschaft des Winterhilfswerkes. Vergeblich versuchte Pfr. Karle zunächst in Spanien, in der Schweiz und später in Dänemark eine Pfarrstelle zu erhalten. Nachdem die Scheiben des evangelischen Pfarrhauses in Tennenbronn mit Steinen eingeworfen wurden, – wohl in der Progromnacht, wie Kohlmann vermutet , – erhielt Familie Karle Hilfe durch den Heidelberger Pfarrer Hermann Maas. Auf Grund seiner Aktivitäten kam am 15. Dezember 1938 über den Berliner Pfr. Grüber eine Einladung von Bischof George Bell aus England bei Familie Karle an. Bischof George Bell, der die Not der „Nichtarischen Christen“ in Deutschland sah, gründete für sie eine Hilfsorganisation um eine Auswanderung nach England zu ermöglichen. Obwohl es nicht leicht war aus Deutschland auszuwandern, gelang es der Familie alle erforderlichen Ausreisepapiere, Vermögensaufstellungen, Auswanderungspässe und Einreisezusagen zu besorgen. Besondere Probleme bereitete dabei bis zum Schluss die erforderliche „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ der Zollfahndungsstelle, welche bestätigte, dass Frau Karle ihren Beitrag als Sühneleistung für die Schäden in der Progromnacht des 9. November geleistet hatte. Nachdem diese eingetroffen war konnte Familie Karle Tennenbronn und den Nazistaat endlich verlassen und emigrierte am 4. Sept. 1939 über Berlin Tempelhof nach England. Da Wilhelm Karle zunächst als „feindlicher Ausländer“ angesehen wurde erfolgte dort, statt der Übernahme eines geplanten Missionsauftrags in Jamaica, zunächst die Internierung auf der Kanalinsel „Isle of Man“ bis Februar 1941. Anschließend war er wohl Reisesekretär bevor er 1943 als Pfarrer die Presbyterian Church in Torquay übernahm. Daneben betreute er noch deutsche Kriegsgefangene. Als der badische Landesbischof nach dem Krieg die Rückkehr in die Heimatkirche und ausgerechnet als Pfarrei St. Georgen anbot, zögert Pfr. Karle. Obwohl er, wie er schrieb, „in Tennenbronn eine gute Zeit gehabt hätte“, ist ihm die angebotene Stelle zu nahe an Tennenbronn. Zur Glockenweihe der neuen Glocken in der evangelischen Kirche kommt dann Pfr. Karle 1949 nach 10 Jahren zum ersten Mal wieder nach Deutschland und in seine alte Heimatgemeinde nach Tennenbronn. Dort hält er,-so Kohlmann-, die wohl bedeutendste Predigt, die je in der evangelischen Kirche in Tennenbronn gehalten wurde. Wieder rund 10 Jahre später kam Familie Karle dann doch wieder nach Deutschland zurück. 1959 übernahm Pfr. Karle, unterstützt durch seine Frau Annemarie, die Pfarrei der Christuskirche in Mannheim, die als eine der bedeutendsten Gemeinden der evangelischen Landeskirche galt. Dort setzte das Pfarrerehepaar Karle wichtige Zeichen. Nicht nur, dass dort erstmals eine Telefonfürsorge eingerichtet wurde, sondern vor allem für die Ökumene setzte sich das Pfarrerehepaar Karle ein. Nach Aussage des Referenten, gehört Pfr. Karle mit seiner Frau Annemarie „zu den wichtigsten Wegbereitern der ökumenischen Bewegung in Europa !“ So organisierte Dr. Annemarie Karle in der Christuskirche Mannheim schon 1960, den ersten „Ökumenischen Weltgebetstag der Frauen“. 1965 kehrte Pfr. Karle dann wieder nach England zurück und übernimmt dort die Pfarrei in Reading. Da Wilhelm Karle zeitlebens dankbar war, dass es in der furchtbaren Nazizeit ein Land gab, das seine Familie aufgenommen hat, ist England für die Familie Karle zur zweiten Heimat geworden. Dort starb er auch 1996, sechs Jahre nach seiner Frau. Mit einer beeindruckenden Würdigung von Landesbischoff Klaus Engelhardt zum Tod von Pfr. Karle endete ein ergreifende Vortrag von Carsten Kohlmann und ein tief beeindruckender und nachdenklich stimmender Vortragsabend.